Auge der Seele
„Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur“. (Adolf Loos)
Angeblich stand am Beginn aller menschlichen Fähigkeit, Welt zu erfassen und zu schaffen, die Übertragung des eigenen Gesichts auf die Umgebung. Die Metapher „Visage du Monde“ erzeugte Vertrautheit, wo bislang Namenlosigkeit vorherrschte; sie wurde kurzerhand zur Urmetapher ernannt. Dichter wildern seit jeher in diesem Terrain anonymer und unkontrollierbarer Mächte, um den einen Satz zu formulieren oder ein unerwartetes Wort mit dem Signum des Ursprünglichen zu versehen. Abgesehen vom Umstand, dass solche Urstiftung jederzeit aufkündbar bleibt, ist der Spielraum in diesem Bereich des Unbegrifflichen weitaus geringer, als es auf den ersten Anblick scheint. Selbst ein später Dichter wie Paul Celan stieg auf das traditionelle Sprachspiel ein, wenn er etwa eine absolute Metapher wie „Gott“ in sein Gedicht übersetzte: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / Niemand. // Gelobt seist du, Niemand.“ Im Schlagschatten der bildlichen Rede werden poetische Gedanken ausformuliert: „Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten.“ Ein poetischer Kosmos vermag sich auszubilden, in dem es dann heißt: „Wahr spricht, wer Schatten spricht.“ Einzelne Wörter beginnen als zusammengesetzte ein schillerndes Bilderleben zu führen: „Stundenholz“, „Selbstzündblumen“, „Brustwarzensteine“, „Flimmerbaum“.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfasste Heinrich von Kleist mit „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ einen Grundtext aller Bildbetrachtung. Wenn man das späte, zur Gegenstandslosigkeit tendierende Gemälde von Caspar David Friedrich betrachte, sei es, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Der visionäre, geradezu blendende Vorgriff auf Surrealismus und Schock als zentrale Kategorie der Ästhetik hatte auch hundert Jahre später im Zeitalter der ideologischen Aufrüstung, von Foto, Film und technischer Reproduzierbarkeit, nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil – die Allegorie auf den Kunstgenuss der Moderne, eine absolute Metapher wie einst „Gott“, steckte den Rahmen und Erfahrungshorizont all dessen ab, was in aestheticis hinkünftig möglich sein sollte.(1) Aus diesem Kontext musste sich die Festigkeit des Buchstabens (der „veste Buchstab“) erweisen, mochte er symbolistischer, politischer oder sprachexperimenteller Natur sein. Um die äußeren Grenzen zu markieren, in denen sich das dichterische Denken von Paul Celan entfaltet, wären zwei Beispiele zu nennen. Ein explizit politischer Dichter wie Bert Brecht setzte die Immanenz des Unendlichen unter Aufbringung aller rhetorischen Tricks auf ironisch-odiose Weise in Szene: „Als Lenin starb, / War es, als sagte der Baum / zu den Blättern: / Ich gehe!“ In der minimalistischen sozialistischen Elegie wird dem Mann, der Geschichte machte, auf unfreiwillig komische Weise ein Denkmal zum endgültigen Abschied gesetzt. Die entgegengesetzte Position nahm Rainer Maria Rilke mit einer selbst verfassten Grabinschrift ein: „Rose, / oh reiner Widerspruch, / Lust, / Niemandes Schlaf zu sein / unter soviel Lidern.“ Nach einer derartigen Gleichsetzung von Welt- und Lebenszeit zur absoluten Inversion wäre der Rest tatsächlich nur noch Schweigen. Allein Paul Celan stand erst am Beginn einer Dichterkarriere, und er hatte „zuviel überlebt“. Sein frühes Gedicht „Russischer Frühling“ von 1944, das die Befreiung durch die Rote Armee zum Gegenstand hat, verknüpft mythologisch Altes mit der zu diesem Zeitpunkt neuesten waffentechnischen Errungenschaft: „Bleib nicht, mein Lieb, wenn Katjuscha nun anfängt / zu singen!“ Damit ist die damals gerade in Einsatz genommene „Stalinorgel“ gemeint, die von Celan mit der schwergewichtigen abschließenden Frage in ein spannungsvolles Verhältnis gesetzt wird: „und ich muß mit Jaakobs Engel noch ringen?“
Die Vielfalt an Sprachen und die Möglichkeiten der Dichtung scheinen bisweilen den Verstand zu rauben: Paul Celan erblickt 1920 in der Hauptstadt des einstigen k. u. k.Kronlandes Bukowina, dem rumänischen Czernowitz, das Licht der Welt; er selbst bezeichnet sich als „nachzugebärenden Kakanier“. Im Elternhaus wird Deutsch gesprochen, in der Schule Hebräisch und Rumänisch, in der Umgebung Ukrainisch. Seine Gedichte schreibt Celan auf Deutsch; aus jugendlicher Begeisterung für die Oktoberrevolution lernt er Russisch. In Abwandlung des traditionellen jüdischen Wunsches „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ lautet sein Lebensmotto: „Wien war das zu Erreichende“. Als der Achtzehnjährige im November 1938 zum Medizinstudium nach Frankreich reist, machte er in Berlin Station, wo gerade die Novemberpogrome beginnen. Darüber schreibt Paul Celan später: “Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen.“ Dieses „Morgen“ sollte der Holocaust sein. Celans Eltern wurden in Transnistrien ermordet, er selbst überlebt als Zwangsarbeiter in Rumänien. Während dieser Zeit entstehen seine ersten Übersetzungen von Shakespeares Sonetten. Auf die Befreiung durch die Rote Armee folgt eine mehrjährige Irrfahrt: Rückkehr nach Czernowitz und Emigration nach Bukarest, wo der künftige Avantgardedichter russische Klassiker und kommunistische Propaganda ins Rumänische übersetzt. Dies ist auch der Zeitpunkt, da der junge Dichter einen fundamentalen Identitätswechsel vollführt: Er gibt seinen Namen Antschel (rumänisiert: Ancel) zugunsten des daraus gebildeten Anagramms „Celan“ auf. Mit kaum fünfundzwanzig verfasst Paul Celan sein berühmtestes Gedicht „Todesfuge“, das in rumänischer Übersetzung als „Tangoul Morții“ erstmals veröffentlicht wird. Die Flucht vor dem sich etablierenden Stalinismus führt ihn Ende Dezember 1947 als Displaced Person nach Wien, einige Monate später weiter nach Frankreich. 1970 erfolgt der Freitod in Paris. Der bedeutendste Dichter deutscher Zunge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht neben neun Gedichtbänden zahlreiche Übersetzungen: aus dem Englischen, Französischen, Hebräischen und vor allem aus dem Russischen. Der intensiven Beschäftigung mit dem russischen Dichter Ossip Mandelstam ist eine mehr als nur ironische Selbstbeschreibung Celans geschuldet: „Ja russkij poet in partibus nemetskich infidelium.“ – „Ich bin ein russischer Dichter im Land der Ungläubigen.“ Damit ist Deutschland gemeint, dessen Sprache der exilierte Poet nicht nur als Sprache der Mörder, sondern ein Leben lang auch als seine Muttersprache verstand. Ein Vaterland war ihm abhandenge-
kommen.
Als der einundvierzigjährige Paul Celan eine Art dichterisches Zwischenresümee verfasst, scheitert er. Das Gedicht „Walliser Elegie“ von 1961, von seinem Verfasser nicht für die Veröffentlichung freigegeben, endet mit „Raron“; dem Namen jenes Schweizer Dorfes, in dem sich das genannte Grab von Rilke befindet. Den Auftakt des Gedichtes bilden: „Regungen, Zuckungen“. Wie in einem Kaleidoskop blitzen dann die Namen russischer Dichter wie Mandelstam und Jewtuschenko auf; zwischen einem blasphemischen „Regina Vagina“, das sich gegen Ende in „Vale Vagina“ verwandelt, wird quer durch Europa ein Breitenkreis vom Schwarzen Meer bis in die Schweiz gezogen. Auf einer vor das 20. Jahrhundert zurück- und in die Gegenwart hineinreichenden zeitlichen Achse figurieren diverse für Celan wichtige historische Figuren – sei es in Form von Anspielungen wie im Falle Dostojewskijs, sei es explizit wie bei dem als „Trotzkist“ von Stalin ermordeten Revolutionär und Politiker Christian Rakowski. Im Zentrum der dichterischen Bewegung dieser mythopoetischen Geografie Europas heißt es: „Wir hatten / zuviel überlebt.“ Schließlich steht da ein in seiner Vieldeutigkeit das ganze Textgewebe verschleiernder und zugleich erhellender Ausdruck: „Mauten und / Mautenjenseits, / Maut- / hausen. Tausend- / stiege“. Ob es sich dabei um einen Hinweis auf die sogenannte Todesstiege im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen in Österreich handelt oder um die Potemkinsche Treppe im russisch-ukrainischen Odessa, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Dennoch (oder vielleicht genau deshalb) führt der Gang über sie oder zu ihr im Gedicht zu einer Art Erleuchtung: „dem / erblüht eine Seele im / Aug seiner Seele.“ In der „Walliser Elegie“ schien der intendierten Einheit nicht Genüge getan, aber es sind derart unentscheidbare Ancelworte, die im Zuge der Bewegung eines jeden Gedichts eine deutliche Wegmarke bilden. Sie können zum Beispiel „Eisdorn“, „Schwarzmaut“ oder „Wüstenbrot“ lauten.
In einem Gedicht aus dem August 1967 erinnert Paul Celan an einen dreizehn Jahre zurückliegenden Atelierbesuch beim Bildhauer Constantin Brâncuși; dessen Steine werden auf konventionell poetische Weise beschworen „als Wunde / in die du zu tauchen hättst, / einsam, / fern meinem Schrei, dem schon mit- / behauenen, weißen.“ Solcherart existenzielles Pathos bei der Aneignung eines Kunstwerks steht zu diesem Zeitpunkt Celans Poetik diametral entgegen, die sich vielmehr der Überwindung jeglichen lyrischen Ichs und aller Expressivität verpflichtet weiß. „Was ich jetzt sage, sage nicht ich, / sondern es ist ausgegraben aus der Erde, wie das versteinerte / Weizenkorn“, heißt es in seiner Übersetzung von Ossip Mandelstams „Hufeisenfinder“. Diese Zeilen stellen das schon früh festgelegte dichterische Maximum dar, jenen „Lichtzwang“, dem sich Celans Dichten immer schon aussetzt. Es liegt mehr als nur ein Schatten auf allen Dingen, die durch kein Lied mehr zu erwecken sind.
Die Serie „Ancelworte“ beraubt jedes denkbare Stillleben von vornherein aller Idylle – stattdessen verweist die fotografische Besitzergreifung der Dinge eher auf „Nature morte“, den französischen Namen des Genres. Die mit „Wortspur“, „Steinatem“ oder „Wundgelesenes“ unterschriebenen Bilder wiederholen nicht den Celans Texten ohnehin zugeschriebenen hermetischen Charakter der abgebildeten Objekte, es erfolgt vielmehr eine tiefergehende Transformation, die nicht nur von der Verwandlung eines Objekts in ein Foto herrührt. Weder der illustrative noch der assoziative Charakter der Bilder ist dabei von Bedeutung. Die „Ancelworte“ werden absolut gesetzt, zugleich aber ihres semantischen Innenlebens entkernt und entledigt. Für den Fotografen sind sie das Mittel zur Petrifizierung der abgebildeten Gegenstände zu einer unbekannten, fast alchemistischen Substanz. Die Bilder wirken wie „von unbekannter Hand“ gemacht. Dass es sich im jeweiligen Fall um ein Stück Brot, um Glasscherben oder Rosenblätter handelt, ist der Preis, den jede Art von bildnerischer „Abstraktion“ bezahlt, kann doch in einer geometrischen Form immer auch ein „Tischtuch“ erkannt werden. Übersehen würde aber jener unmerkliche Schritt zwischen Leben und Tod, der dabei erfolgt. Sosehr dieses zentrale Moment durch den vordergründig „ästhetischen“ Gestus der Bilder verdeckt wird – die präzise Schattenwissenschaft von Nafez Rerhuf weist vor allem auf einen Umstand hin: das Rätsel der Sichtbarkeit ist nur mit dem „Auge der Seele“ zu lösen. Ganz besonders gilt das, wenn aufgrund hintergründiger, geradezu boshafter Ironie auch ein zerbrochenes Smartphone „archaischen“ Charakter bekommt. Was das Ausgangsmaterial, die Gedichte von Paul Celan, betrifft, so hat der schon früher eine Antwort gegeben: „La poésie ne s’impose plus, elle s’expose.“
Erich Klein
(1) Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich bei jenem „künftigen Dichter“, über den bei der legendären Begegnung von Paul Celan und dem Philosophen Martin Heidegger gesprochen wurde, um Kleist handelte.
„Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur“. (Adolf Loos)
Angeblich stand am Beginn aller menschlichen Fähigkeit, Welt zu erfassen und zu schaffen, die Übertragung des eigenen Gesichts auf die Umgebung. Die Metapher „Visage du Monde“ erzeugte Vertrautheit, wo bislang Namenlosigkeit vorherrschte; sie wurde kurzerhand zur Urmetapher ernannt. Dichter wildern seit jeher in diesem Terrain anonymer und unkontrollierbarer Mächte, um den einen Satz zu formulieren oder ein unerwartetes Wort mit dem Signum des Ursprünglichen zu versehen. Abgesehen vom Umstand, dass solche Urstiftung jederzeit aufkündbar bleibt, ist der Spielraum in diesem Bereich des Unbegrifflichen weitaus geringer, als es auf den ersten Anblick scheint. Selbst ein später Dichter wie Paul Celan stieg auf das traditionelle Sprachspiel ein, wenn er etwa eine absolute Metapher wie „Gott“ in sein Gedicht übersetzte: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / Niemand. // Gelobt seist du, Niemand.“ Im Schlagschatten der bildlichen Rede werden poetische Gedanken ausformuliert: „Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten.“ Ein poetischer Kosmos vermag sich auszubilden, in dem es dann heißt: „Wahr spricht, wer Schatten spricht.“ Einzelne Wörter beginnen als zusammengesetzte ein schillerndes Bilderleben zu führen: „Stundenholz“, „Selbstzündblumen“, „Brustwarzensteine“, „Flimmerbaum“.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfasste Heinrich von Kleist mit „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ einen Grundtext aller Bildbetrachtung. Wenn man das späte, zur Gegenstandslosigkeit tendierende Gemälde von Caspar David Friedrich betrachte, sei es, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Der visionäre, geradezu blendende Vorgriff auf Surrealismus und Schock als zentrale Kategorie der Ästhetik hatte auch hundert Jahre später im Zeitalter der ideologischen Aufrüstung, von Foto, Film und technischer Reproduzierbarkeit, nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil – die Allegorie auf den Kunstgenuss der Moderne, eine absolute Metapher wie einst „Gott“, steckte den Rahmen und Erfahrungshorizont all dessen ab, was in aestheticis hinkünftig möglich sein sollte.(1) Aus diesem Kontext musste sich die Festigkeit des Buchstabens (der „veste Buchstab“) erweisen, mochte er symbolistischer, politischer oder sprachexperimenteller Natur sein. Um die äußeren Grenzen zu markieren, in denen sich das dichterische Denken von Paul Celan entfaltet, wären zwei Beispiele zu nennen. Ein explizit politischer Dichter wie Bert Brecht setzte die Immanenz des Unendlichen unter Aufbringung aller rhetorischen Tricks auf ironisch-odiose Weise in Szene: „Als Lenin starb, / War es, als sagte der Baum / zu den Blättern: / Ich gehe!“ In der minimalistischen sozialistischen Elegie wird dem Mann, der Geschichte machte, auf unfreiwillig komische Weise ein Denkmal zum endgültigen Abschied gesetzt. Die entgegengesetzte Position nahm Rainer Maria Rilke mit einer selbst verfassten Grabinschrift ein: „Rose, / oh reiner Widerspruch, / Lust, / Niemandes Schlaf zu sein / unter soviel Lidern.“ Nach einer derartigen Gleichsetzung von Welt- und Lebenszeit zur absoluten Inversion wäre der Rest tatsächlich nur noch Schweigen. Allein Paul Celan stand erst am Beginn einer Dichterkarriere, und er hatte „zuviel überlebt“. Sein frühes Gedicht „Russischer Frühling“ von 1944, das die Befreiung durch die Rote Armee zum Gegenstand hat, verknüpft mythologisch Altes mit der zu diesem Zeitpunkt neuesten waffentechnischen Errungenschaft: „Bleib nicht, mein Lieb, wenn Katjuscha nun anfängt / zu singen!“ Damit ist die damals gerade in Einsatz genommene „Stalinorgel“ gemeint, die von Celan mit der schwergewichtigen abschließenden Frage in ein spannungsvolles Verhältnis gesetzt wird: „und ich muß mit Jaakobs Engel noch ringen?“
Die Vielfalt an Sprachen und die Möglichkeiten der Dichtung scheinen bisweilen den Verstand zu rauben: Paul Celan erblickt 1920 in der Hauptstadt des einstigen k. u. k.Kronlandes Bukowina, dem rumänischen Czernowitz, das Licht der Welt; er selbst bezeichnet sich als „nachzugebärenden Kakanier“. Im Elternhaus wird Deutsch gesprochen, in der Schule Hebräisch und Rumänisch, in der Umgebung Ukrainisch. Seine Gedichte schreibt Celan auf Deutsch; aus jugendlicher Begeisterung für die Oktoberrevolution lernt er Russisch. In Abwandlung des traditionellen jüdischen Wunsches „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ lautet sein Lebensmotto: „Wien war das zu Erreichende“. Als der Achtzehnjährige im November 1938 zum Medizinstudium nach Frankreich reist, machte er in Berlin Station, wo gerade die Novemberpogrome beginnen. Darüber schreibt Paul Celan später: “Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen.“ Dieses „Morgen“ sollte der Holocaust sein. Celans Eltern wurden in Transnistrien ermordet, er selbst überlebt als Zwangsarbeiter in Rumänien. Während dieser Zeit entstehen seine ersten Übersetzungen von Shakespeares Sonetten. Auf die Befreiung durch die Rote Armee folgt eine mehrjährige Irrfahrt: Rückkehr nach Czernowitz und Emigration nach Bukarest, wo der künftige Avantgardedichter russische Klassiker und kommunistische Propaganda ins Rumänische übersetzt. Dies ist auch der Zeitpunkt, da der junge Dichter einen fundamentalen Identitätswechsel vollführt: Er gibt seinen Namen Antschel (rumänisiert: Ancel) zugunsten des daraus gebildeten Anagramms „Celan“ auf. Mit kaum fünfundzwanzig verfasst Paul Celan sein berühmtestes Gedicht „Todesfuge“, das in rumänischer Übersetzung als „Tangoul Morții“ erstmals veröffentlicht wird. Die Flucht vor dem sich etablierenden Stalinismus führt ihn Ende Dezember 1947 als Displaced Person nach Wien, einige Monate später weiter nach Frankreich. 1970 erfolgt der Freitod in Paris. Der bedeutendste Dichter deutscher Zunge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht neben neun Gedichtbänden zahlreiche Übersetzungen: aus dem Englischen, Französischen, Hebräischen und vor allem aus dem Russischen. Der intensiven Beschäftigung mit dem russischen Dichter Ossip Mandelstam ist eine mehr als nur ironische Selbstbeschreibung Celans geschuldet: „Ja russkij poet in partibus nemetskich infidelium.“ – „Ich bin ein russischer Dichter im Land der Ungläubigen.“ Damit ist Deutschland gemeint, dessen Sprache der exilierte Poet nicht nur als Sprache der Mörder, sondern ein Leben lang auch als seine Muttersprache verstand. Ein Vaterland war ihm abhandenge-
kommen.
Als der einundvierzigjährige Paul Celan eine Art dichterisches Zwischenresümee verfasst, scheitert er. Das Gedicht „Walliser Elegie“ von 1961, von seinem Verfasser nicht für die Veröffentlichung freigegeben, endet mit „Raron“; dem Namen jenes Schweizer Dorfes, in dem sich das genannte Grab von Rilke befindet. Den Auftakt des Gedichtes bilden: „Regungen, Zuckungen“. Wie in einem Kaleidoskop blitzen dann die Namen russischer Dichter wie Mandelstam und Jewtuschenko auf; zwischen einem blasphemischen „Regina Vagina“, das sich gegen Ende in „Vale Vagina“ verwandelt, wird quer durch Europa ein Breitenkreis vom Schwarzen Meer bis in die Schweiz gezogen. Auf einer vor das 20. Jahrhundert zurück- und in die Gegenwart hineinreichenden zeitlichen Achse figurieren diverse für Celan wichtige historische Figuren – sei es in Form von Anspielungen wie im Falle Dostojewskijs, sei es explizit wie bei dem als „Trotzkist“ von Stalin ermordeten Revolutionär und Politiker Christian Rakowski. Im Zentrum der dichterischen Bewegung dieser mythopoetischen Geografie Europas heißt es: „Wir hatten / zuviel überlebt.“ Schließlich steht da ein in seiner Vieldeutigkeit das ganze Textgewebe verschleiernder und zugleich erhellender Ausdruck: „Mauten und / Mautenjenseits, / Maut- / hausen. Tausend- / stiege“. Ob es sich dabei um einen Hinweis auf die sogenannte Todesstiege im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen in Österreich handelt oder um die Potemkinsche Treppe im russisch-ukrainischen Odessa, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Dennoch (oder vielleicht genau deshalb) führt der Gang über sie oder zu ihr im Gedicht zu einer Art Erleuchtung: „dem / erblüht eine Seele im / Aug seiner Seele.“ In der „Walliser Elegie“ schien der intendierten Einheit nicht Genüge getan, aber es sind derart unentscheidbare Ancelworte, die im Zuge der Bewegung eines jeden Gedichts eine deutliche Wegmarke bilden. Sie können zum Beispiel „Eisdorn“, „Schwarzmaut“ oder „Wüstenbrot“ lauten.
In einem Gedicht aus dem August 1967 erinnert Paul Celan an einen dreizehn Jahre zurückliegenden Atelierbesuch beim Bildhauer Constantin Brâncuși; dessen Steine werden auf konventionell poetische Weise beschworen „als Wunde / in die du zu tauchen hättst, / einsam, / fern meinem Schrei, dem schon mit- / behauenen, weißen.“ Solcherart existenzielles Pathos bei der Aneignung eines Kunstwerks steht zu diesem Zeitpunkt Celans Poetik diametral entgegen, die sich vielmehr der Überwindung jeglichen lyrischen Ichs und aller Expressivität verpflichtet weiß. „Was ich jetzt sage, sage nicht ich, / sondern es ist ausgegraben aus der Erde, wie das versteinerte / Weizenkorn“, heißt es in seiner Übersetzung von Ossip Mandelstams „Hufeisenfinder“. Diese Zeilen stellen das schon früh festgelegte dichterische Maximum dar, jenen „Lichtzwang“, dem sich Celans Dichten immer schon aussetzt. Es liegt mehr als nur ein Schatten auf allen Dingen, die durch kein Lied mehr zu erwecken sind.
Die Serie „Ancelworte“ beraubt jedes denkbare Stillleben von vornherein aller Idylle – stattdessen verweist die fotografische Besitzergreifung der Dinge eher auf „Nature morte“, den französischen Namen des Genres. Die mit „Wortspur“, „Steinatem“ oder „Wundgelesenes“ unterschriebenen Bilder wiederholen nicht den Celans Texten ohnehin zugeschriebenen hermetischen Charakter der abgebildeten Objekte, es erfolgt vielmehr eine tiefergehende Transformation, die nicht nur von der Verwandlung eines Objekts in ein Foto herrührt. Weder der illustrative noch der assoziative Charakter der Bilder ist dabei von Bedeutung. Die „Ancelworte“ werden absolut gesetzt, zugleich aber ihres semantischen Innenlebens entkernt und entledigt. Für den Fotografen sind sie das Mittel zur Petrifizierung der abgebildeten Gegenstände zu einer unbekannten, fast alchemistischen Substanz. Die Bilder wirken wie „von unbekannter Hand“ gemacht. Dass es sich im jeweiligen Fall um ein Stück Brot, um Glasscherben oder Rosenblätter handelt, ist der Preis, den jede Art von bildnerischer „Abstraktion“ bezahlt, kann doch in einer geometrischen Form immer auch ein „Tischtuch“ erkannt werden. Übersehen würde aber jener unmerkliche Schritt zwischen Leben und Tod, der dabei erfolgt. Sosehr dieses zentrale Moment durch den vordergründig „ästhetischen“ Gestus der Bilder verdeckt wird – die präzise Schattenwissenschaft von Nafez Rerhuf weist vor allem auf einen Umstand hin: das Rätsel der Sichtbarkeit ist nur mit dem „Auge der Seele“ zu lösen. Ganz besonders gilt das, wenn aufgrund hintergründiger, geradezu boshafter Ironie auch ein zerbrochenes Smartphone „archaischen“ Charakter bekommt. Was das Ausgangsmaterial, die Gedichte von Paul Celan, betrifft, so hat der schon früher eine Antwort gegeben: „La poésie ne s’impose plus, elle s’expose.“
Erich Klein
(1) Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich bei jenem „künftigen Dichter“, über den bei der legendären Begegnung von Paul Celan und dem Philosophen Martin Heidegger gesprochen wurde, um Kleist handelte.